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Brauchen wir den "digitalen Arbeitsschutz"?

In einem meiner Stressmanagement-Seminare beschwerte sich eine junge Krankenschwester bitterlich: „Ich lag Sonntagmorgen noch mit meinem Freund im Bett, da schreibt mir doch glatt mein Chef eine WhatsApp-Nachricht. Ob ich gleich zur Arbeit kommen und für eine erkrankte Kollegin einspringen könnte! Was für eine Unverschämtheit!“

 

Hat sich hier wirklich nur der Vorgesetzte falsch verhalten? Ich habe mich gefragt, warum sie denn eine Nachricht aus der Klinik überhaupt öffnet, wenn sie doch eigentlich gerade Schöneres zu tun hat. Auf meine Rückfrage, warum sie denn ihren Chef mit ins Bett gelassen hatte, war sie erst einmal sprachlos.

 

Dank der technischen Möglichkeiten haben sich Vorgehensweisen eingeschlichen, die bislang stillschweigend akzeptiert werden. So wird die Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Umgang mit digitalen Medien quasi unterlaufen. Wir denken weder darüber nach, wie wir mit uns umgehen, noch darüber, was wir mit uns machen lassen. Der Trend geht zur Selbstausbeutung, Entgrenzung und führt im schlimmsten Fall zum völligen Aufgeben einer Trennung zwischen Arbeits- und Privatleben. Durch die Zunahme der Arbeit im Homeoffice hat sich dieser Trend in den letzten Jahren noch deutlich verstärkt.

 

Der Arbeits- und Gesundheitsschutz in Deutschland hat eine lange Tradition und ist in den Unternehmen gut etabliert. Damit ist es gelungen, die Zahl von Unfällen, Verletzungen oder gar Todesfällen deutlich zu senken. Viel schwerer tun wir uns mit dem Schutz der psychischen Gesundheit. Obwohl das Stressniveau der Arbeitnehmer seit vielen Jahren ungebremst steigt, haben viele Firmen die psychische Gesundheit ihrer Belegschaften erst seit sehr kurzer Zeit im Blick. Noch weniger werden die gesundheitlichen Auswirkungen der hybriden Arbeit oder der digitalen Medien beachtet – doch die Veränderungen auch am Arbeitsplatz sind gravierend.

 

Die COVID-19-Pandemie hat die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz in den Fokus gerückt. Statistiken zeigen einen Anstieg von Stress, Angstzuständen und Depressionen bei Arbeitnehmern weltweit. Homeoffice, soziale Isolation und die ständige Unsicherheit haben diese Herausforderungen verstärkt. Es ist jetzt wichtiger denn je, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die psychische Gesundheit zu schützen und zu fördern.

 

Weil die Digitalisierung in der Arbeitswelt aber zu deutlich mehr Stress führen kann, muss sie hinterfragt und vom Arbeitsschutz mit erfasst werden. So ergeben sich ganz neue Fragen, die wir sowohl für uns persönlich, als auch als Gesellschaft beantworten müssen:

 

·       Wie erreichbar wollen wir sein? Nur während der Arbeitszeit? Auch am Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub?

 

·       Wo wollen wir arbeiten? Nur am eigentlichen Arbeitsplatz? Oder auch zuhause oder unterwegs? Wie lange wollen wir von wo aus arbeiten? Was gilt dann noch als Arbeitszeit?

 

·       Wieviel persönliche Informationen wollen wir von uns preisgeben? Soll der Arbeitgeber die Handy-Nummer bekommen und uns dann zu jeder Zeit kontaktieren können? Wollen wir wirklich eine Whatsapp-Gruppe des Teams, über die wir jederzeit erreichbar sind? Wollen wir persönlich vorgestellt werden auf der Homepage der Firma?

 

·       Wissen wir eigentlich, welche Möglichkeiten der Kontrolle und des Ausspionierens Arbeitgeber inzwischen haben? Wenn jederzeit auf den PC von Mitarbeitern zugegriffen werden kann, kommt es zur dauernden Überwachung, jeder Tastendruck kann verfolgt werden.

 

·       Wieviel Befehlsgewalt wollen wir digitalisieren? Inzwischen können Computer jeden Handgriff der Mitarbeitenden effizient berechnen und vorschreiben. Wo bleiben da die eigene Kreativität und die Spielräume für eigene Entscheidungen und Arbeitsweisen?

 

Diese schleichende Neugestaltung der Arbeitswelt sollte nicht dem persönlichen Ermessen von Arbeitgebern oder Beschäftigten überlassen werden. Es gibt bereits eine Fülle von psychologischen Erkenntnissen darüber, welche Arbeitsbedingungen die psychische Gesundheit schädigen oder fördern. So sind z. B. zu lange Arbeitszeiten oder fehlende Zeiten zum Abschalten gesundheitsschädlich. Handlungs- und Entscheidungsspielräume fördern das psychische Wohlbefinden und wirken Stress entgegen. Diese Erkenntnisse müssen auch durch entsprechende Arbeitsschutz-Verordnungen in der Arbeitswelt umgesetzt werden.

 

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